Der deutsche Jugendmedienschutz: 3-tägiger Workshop an der National School of Cinema in Teheran, Juli 2017

Auf Einladung der „National School of Cinema“ und gefördert durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) führte Prof. Dr. Stefan Piasecki in der Zeit vom 6.-10. Juli 2017 einen dreitägigen Workshop zu Fragen des deutschen Jugendmedienschutzes in Teheran durch.

Darüber hinaus besuchte er die Dreharbeiten des neuen Films „Hezar-pa“ (هزارپا, Tausendfüßler) des international bekannten und preisgekrönten Regisseurs Abu’l Hassan Davudi und lernte die gegenwärtigen Superstars des iranischen Kinos kennen: Reza Attaran und Javad Ezati sowie Sara Bahrami. Zu Anlass einer Abendveranstaltung ergaben sich Gespräche mit weiteren Intellektuellen und internationalen Filmschaffenden.

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Dr. Rouholla Hosseini und Stefan Piasecki

Die im Jahr 2013 / 1392 gegründete und von Dr. Rouholla Hosseini geleitete „National School of Cinema“ ist eine Ausbildungseinrichtung, die sich der spezifischen Kultur des iranischen Kinos verschrieben hat und diese erhalten, fördern und fortentwickeln möchte. Dozierende im Studiengang Filmproduktion sind aktive Medienwissenschaftler und iranische Filmschaffende. Aktuell studieren 17 junge Kreative dort, die aus mehreren tausend Bewerbern am Ende eines aufwendigen Auswahlprozesses ausgewählt wurden. Sie erhalten von der Filmschule ein „Studierendengehalt“, damit sie sich voll und ganz auf ihr Studium und die Ausbildung ihrer Fähigkeiten konzentrieren können.

Neben dem aktuellen Studiengang bietet die Filmschule auch Lehrgänge und Workshops zu Themen von internationaler Bedeutung an, wenn sie eine große Relevanz für die iranische Filmindustrie haben. Eines dieser Themen ist der weltweit im Umbruch befindliche Jugendmedienschutz.

IMG_0685Videostreaming und globalisierte, im wahrsten Sinne des Wortes „entgrenzte“ Handelsmöglichkeiten sind neue Herausforderungen für bisher national agierende Jugendschutzbehörden. Deren Aufgabe ist es nach wie vor, Kinder und Jugendliche vor schädlichen und möglicherweise desorientierenden Inhalten zu schützen und gleichzeitig durch ihre Prüfentscheidungen Eltern und Erziehungsberechtigten Orientierung zu bieten. Die traditionsreichen deutschen Prüfsiegel der FSK beispielsweise gehen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung über die reine Produktkennzeichnung weit hinaus; sie sind Diskussionsgegenstand, Diskursbeitrag und ebenso Spiegelbild der Gegenwartskultur. Der bisher nationalstaatlich organisierte und einer bestimmten Mainstreamkultur verhaftete Jugendmedienschutz vermag jedoch multinationalen und multikulturellen Produktionen und Zielgruppen nicht immer gerecht zu werden – dies betrifft insbesondere Einwanderungsgesellschaften. Das Interesse iranischer Filmschaffender an diesen Fragen liegt demnach nahe.

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Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops

Der Jugendmedienschutz in Deutschland ist erheblich vielfältiger als es die Freigabesiegel der FSK auf DVD-Boxen erwarten lassen, obwohl sie wohl zu den bekanntesten „Markenzeichen“ gehören, mit denen sich Filmfreunde in Deutschland beschäftigen (müssen). Das föderale System der Bundesrepublik und die Einführung des Privatfernsehens ab 1984 sowie moderner Trägertechnologien (CD-ROM, Streaming etc.) in den 1990er Jahren führten zu immer neuen Herausforderungen für die Bewertung potenziell jugendgefährdender Inhalte. Heute existieren neben der FSK in Wiesbaden die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) oder die Unterhaltungssoftwareselbstkontrolle (USK), deren rechtliche Zuständigkeiten durch den Jugendmedienschutzstaatsvertrag (JMStV) geregelt werden. Für Außenstehende ist das System nicht einfach zu durchschauen: Wenngleich die sichtbaren Ausprägungen durch die Freigabekennzeichen ähnlich sind, sind die Strukturen der Prüfinstanzen doch sehr unterschiedlich.

Dieses System darzustellen und durch Beispiele zu verdeutlichen war der Ansatz des Workshops „Protection of youths in Germany. Media content and its implication on social development and the protection of minors“ von Prof. Dr. Stefan Piasecki.

Neben den historischen Hintergründen des deutschen Jugendschutzes stand insbesondere die rechtliche Feststellung im Vordergrund, dass und warum es sich bei dem System des deutschen Jugendmedienschutzes nicht um Zensur handelt und was in diesem Kontext die „Freiwilligkeit“ der voluntary self control bedeutet.

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In vielen Sendungen des iranischen Kinderfernsehens sind Altershinweise beständig eingeblendet

Detailliert ausgeführt wurden die rechtlichen Grundlagen anhand des Grundgesetzes, des JuSchG und des JMStV. Inhaltlich wurden weiterhin Prüfkriterien vermittelt und anhand von Filmclips verdeutlicht. Zum Abschluss des Workshops wurden Sequenzen des Films „300“ von den iranischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gemäß der Kriterien des deutschen Jugendschutzes bewertet und eine angemessene Kennzeichnung diskutiert. Es ergab sich, dass auch in einem gänzlich anderen kulturellen Kontext wie dem Iran bei der Sichtung des Filmmaterials weitgehend die gleichen Fragen und kritischen Anmerkungen aufkamen wie auch in Deutschland – was anhand der vorliegenden FSK-Prüfprotokolle der Erstprüfung und der letztlichen Entscheidung des Berufungsausschusses nebst Revidierung der zunächst vorgenommenen Einstufung dokumentiert und für den Workshop nachvollziehbar war.

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Die Kollegen des Kultur- und Religionsministeriums unter Leitung von Prof. Ali Mirzaee (2.v.l.)

Interessant für die Beteiligten stellte sich die überraschende Teilnahme einer hochrangigen Delegation des Ministeriums für Kultur und islamische Führung (ارشاد) an dem gesamten Workshop heraus. Diese konnten wertvolle Ansichten aus der Prüfpraxis des Irans beitragen und zeigten sich interessiert an den alle Medienproduktionen umfassenden Prüfstrukturen in Deutschland, wohingegen im Iran bislang nur vereinzelte Medienprodukte für den Verkauf gekennzeichnet und nicht alle Fernsehsendungen für die Zuschauer sichtbar klassifiziert werden. Insbesondere Kindersendungen im Fernsehen erhalten zwar eine Alterskennzeichnung, diese bleibt allerdings während der gesamten Sendung eingeblendet (während in Deutschland lediglich Informationstafeln zu Beginn eines Film im Hauptabendprogramm gezeigt werden).

 

Besuch bei Dreharbeiten

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Stefan Piasecki, Abu’l Hassan Davudi, Erfan Shams (v.l.n.r.)

Erfan Shams, Student der National School of Cinema, führte Stefan Piasecki an einem Exkursionstag in den Süden Teherans an den Drehort von Abu’l Hassan Davudis neuer Komödie „Hezar-pa“. Diese erzählt die Geschichte eines Veteranen des irakisch-iranischen Krieges, der sich mit Beinprothese durch das Leben schlägt und allerlei witzige Abenteuer erlebt. Gedreht wurden zwei Szenen im Eingangsbereich einer Armaturenfabrik, die für den Film zu einem Krankenhaus umgestaltet wurde. Vor Drehbeginn wurden Informationskästen mit Plakaten und Aushängen der damaligen Zeitperiode angebracht und langsam entglitt der sichtbare Bereich nebst Pförtnerloge und Eingangstor der Gegenwart in eine ferne Vergangenheit Ende der 1980er / 1360er Jahre.

 

Die beiden Filmkumpanen (dargestellt von Reza Attaran und Javad Ezati) folgen mit einem Moped der Krankenschwester (Sara Bahrami), die aber mit ihrem Auto durch die bewachte Pforte fährt. Die Freunde müssen am Straßenrand zurückbleiben und ärgern sich über die verpasste Gelegenheit sie zu treffen.

Die Beinprothese bzw. der Stumpf des Veteranen ist computergeneriert. Reza Attaran trägt einen grellgrünen Strumpf, der später in der Postproduktion digital entfernt wird.

„Hezar-pa“ kommt voraussichtlich Anfang 2018 / Ende 1396 in die Kinos.

 

Besuch im Teheraner Friedensmuseum, 13.5.2017

Einer Einladung folgend besuchte Prof. Dr. Stefan Piasecki am 13. Mai 2017 das Friedensmuseum in Teheran.

IMG_9406Es liegt am Nordausgang des historischen Stadtparks Parke Shahr unweit des Außenministeriums. Während die Umgebung des modernen Gebäudes Kunstwerke mit Friedensmotiven aufweist, ist das Innere dem Anlass entsprechend gediegen, still, edel und übersichtlich gestaltet.

Im Fokus stehen die internationale Friedensarbeit sowie die Auseinandersetzung mit Kriegen und ihren Anlässen. Die Ausstellung zeigt einige moderne Waffensysteme wie Minen und Streubomben und informiert über deren furchtbare Wirkung. Kinderzeichnungen an den Wänden zeugen von der Vielzahl von Workshops für wissenschaftliche, professionelle und ebenso auch minderjährige Besucher. Das direkte Gespräch mit Menschen ist dem ehrenamtlichen Betreiberteam ein besonderes Anliegen. Veteranen des Irakisch-Iranischen Krieges sind im Leitungsteam tätig oder führen Besucher herum. Sie waren teilweise selbst von Verstümmelungen oder Giftgasangriffen betroffen und sind bis heute von diesen gezeichnet. Die Aussöhnung mit dem Irak steht im Vordergrund. Berichtet wird, dass auch in Kriegstagen der Feind nicht im gegnerischen Soldaten, sondern in der Führung Saddam Husseins gesehen wurde.

Internationale Kooperationen bestehen bis nach Japan und Europa. Die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki und ebenso die Schrecken des ersten Weltkrieges werden in eigenen Schwerpunkten behandelt.

Inhaltlich fühlt man sich Friedenspolitik, internationalem Ausgleich, Abrüstung und der Friedensforschung verpflichtet.

Von besonderem zeitgeschichtlichen Wert sind gesammelte Zeugenaussagen von Kriegsveteranen, die im Haus selbst aufgezeichnet und bearbeitet werden können.

Ergänzend zu der ständigen Ausstellung werden immer wieder besondere Thementage oder Tagungen veranstaltet. Das nationale Koordinationsbüro der internationalen „Mayors for Peace“-Bewegung ist ebenfalls in dem Gebäude ansässig.

Wenngleich das Friedensmuseum eine Vielzahl wichtiger Artefakte und Ausstellungsthemen beherbergt, fällt aus deutscher Sicht das Fehlen der für Deutschland und Europa wichtigen Rolle der deutschen Friedensbewegung auf, die sich an dem NATO-Doppelbeschluss 1979 als gesellschaftliche Kraft entzündete und in Westdeutschland Ostermärsche mit mehreren hunderttausend Teilnehmern und riesigen Friedenskonzerten (unvergessen: BAP in den Bonner Rheinwiesen am 10. Juni 1982 – vor genau 35 Jahren) hervorbrachte. In der ehemaligen DDR entstanden aus ersten „Montagsgebeten“ die später Geschichte schreibenden Massendemonstrationen und vor allem die Kultur der „Runden Tische“, welche ab Herbst 1989 die notwendigen Transformationsprozesse in der DDR friedlich bleiben ließ.

IMG_0096Der Vorschlag von Stefan Piasecki, deutsche Studierende der CVJM-Hochschule in Kassel hierzu einen Ausstellungsbeitrag erstellen zu lassen, wurde von der Leitung des Friedensmuseums erfreut aufgenommen. So werden nun von einer kleinen Gruppe, bestehend aus Julia Bretschneider, Tobias Meyer und Stefan Piasecki, insgesamt sechs Poster produziert, die die Geschichte der deutschen Friedensbewegung in Ost und West und ihre Bedeutung für den Frieden in Europa illustrieren. Sie sollen später im Rahmen einer Sonderausstellung in Teheran vorgestellt werden.

Workshop in Zandschan / Iran: „New Media and Agriculture. Impacts on Rural Life in Germany and Iran“

IMG_9681_kIm Rahmen eines dreitägigen DAAD-Workshops an der Universität von Zandschan im Nordwesten Irans gingen Prof. Dr. Esmail Karamidekhordi und Prof. Dr. Stefan Piasecki sowie 25 Studierende der landwirtschaftlichen Fakultät vom 14.-17. Mai 2017 der Rolle und Bedeutung von Landwirtschaft, sozialen Strukturen in kleinen Städten und Dörfern und von Medientechnologien auf den Grund.

Deutschland hat seit 1990 tiefgreifende Veränderungen erlebt, die auch international beachtet wurden und zu Nachfragen einladen: Wie hat sich das soziale Gefüge in den Dörfern entwickelt? Welche Bedeutung spielt die Mechanisierung der Landwirtschaft?

Der Zusammenbruch der großen LPGs in den neuen Bundesländern, die Abwanderung von Bewohnern ländlicher Regionen in Ost und West über die letzten Jahrzehnte hinweg einerseits, die zunehmende Zersiedelung von Flächen und Urbanisierung von Landschaften andererseits haben in Deutschland zu einem Aufbrechen traditioneller Strukturen geführt. Ein Bevölkerungsaustausch durch Städter, die in die ruhigeren Randgebiete oder gleich auf das Land und in Dörfer gezogen sind und durch jene, die auf der Suche nach Bildung oder beruflichen Perspektiven von dort in die Stadt gingen führte zur Ausbildung von Mischformen ländlichen Lebens in den letzten 30 Jahren.

Damit zeigen sich jedoch lediglich die jüngsten Entwicklungen eines bereits seit dem späten 18. Jahrhundert ablaufenden Prozesses in Deutschland, der durch die Industrialisierung in Gang gesetzt und aufgrund von staatlichen Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts noch beschleunigt wurde.

Wissenschaft und Technik wie auch staatliche Förderung zur Automatisierung und Mechanisierung von Landwirtschaft seit den 1930er Jahren führten in Deutschland zur zunehmend verbesserten Ausbeute landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Tierhaltung. Gleichzeitig wurden Fragen von Umwelt- und Tierschutz immer wichtiger. Im Zuge solcher grundsätzlich positiven Entwicklungen gingen jedoch leider auch hunderttausende Arbeitsplätze verloren. Gerade niedrig qualifizierte oder ungelernte Arbeitskräfte wie Erntehelfer oder Melker wurden obsolet, seit 1975 verringerte sich die Zahl der Bauernhöfe um ein Drittel auf heute nur noch ca. 250.000. Noch immer geben jedes Jahr etwa 10.000 Höfe auf. Dass im gleichen Zeitraum die Größe der bewirtschafteten Flächen rapide anstieg verdeutlicht die starke Konzentration. Der klassische Familienbetrieb, die Bauernfamilie, arbeitet heute längst nicht mehr allein auf dem Hof, sondern bisweilen wenigstens in Teilzeit oder in Person einzelner Familienmitglieder in der nahen Stadt. Bauernhof und Vorverarbeitung wurden aus vielen Dorfkernen an die Ränder verlegt. Dörfer wurden dadurch optisch größer, aber im Kern doch ihrer eigentlichen Bedeutungen entledigt.

Im 21. Jahrhundert nun stellen sich neue Herausforderungen dar: Politik und Gesetze, Verordnungen und Erlasse werden immer öfter durch die EU bestimmt, die Digitalisierung von Landwirtschaft erlaubt die vollautomatische Bewirtung riesiger Flächen, die von unbemannten Landmaschinen unter Verwendung aktuellster Wetter- und Bodendaten verwertet werden. Während dadurch die Qualität der Erzeugnisse tendenziell besser wird, sinkt die Zahl der Mitarbeitenden im Agrarsektor weiter.

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Die sozialen Strukturen auf dem Land, ebenso wie der Strukturwandel insgesamt, verlaufen im Iran ganz anders als in Deutschland. Auch dort gibt es mittlerweile die nicht-mehr-nur-Bauern-Familien, doch die Gründe, in der Stadt zu arbeiten, sind sehr unterschiedlich. Es geht hier weniger um Konsumpartizipation oder Selbstverwirklichung – es dominiert vielmehr die reine Notwendigkeit zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes.

Auch wirtschaftlich und im Sinne einer nationalen Selbstversorgung sind die Landwirtschaften beider Länder alles andere als ähnlich. Während im Iran mit 4,3 Mill. landwirtschaftlichen Haushalten noch immer 26,5% aller Arbeitskräfte auf den Agrarsektor entfallen (verglichen mit 30,7% in der Industrie und 42,8% im Dienstleistungssektor), sank dessen Anteil am nationalen GDP von 20,5% in 1985 auf noch 10,3% in 2009/2010 (Karamidekhordi 2013). Die Weltbank beziffert die Wertschöpfung der mit 19 Mio. Landarbeitnehmern erzeugenden iranischen Agrarökonomie auf 39 Mrd. US$, jene der deutschen Landwirtschaft mit unter 1 Mio. Beschäftigten auf 27 Mrd. US$ (World Bank Indicators). Dies macht nicht nur den unterschiedlichen Effizienzgrad deutlich, sondern auch die volkswirtschaftliche Bedeutung. Die iranische Bevölkerung von gegenwärtig etwa 80 Mio. Menschen wird bis 2050 auf 100 Mio. Menschen anwachsen und ist somit sowohl als Erzeuger wie auch Beschäftigungsmarkt von erheblicher Bedeutung.

Jegliche Maßnahmen mit Rationalisierungspotenzial können soziale Folgen nach sich ziehen, die sich destabilisierend auswirken können.

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Wie zuvor in Deutschland sind die Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf dem Land somit Ziel staatlicher Lenkungs-, Monitoring-, und Beratungsprozesse. Deutschland hat hier nur gute 10-15 Jahre Vorsprung und bietet sich gerade auch durch die bereits praktizierten Mediations- und Sozialberatungskompetenzen und Erfahrungen als Partner an. Struktursicherungsmaßnahmen waren im Iran zunächst noch sehr unkoordiniert zwischen öffentlichen und privaten Trägern und Beratungsnetzwerken. Hinzu kam, dass wissenschaftlich geprägte Beratung und praktisch orientierte Arbeitsbevölkerung lange in ihren Bedürfnissen aneinander vorbei arbeiteten. Auch in Deutschland ist das nicht ganz unbekannt. Der Zwei-Säulen-Ansatz der europäischen und nationalen Agrarpolitik verdeutlicht hier in ihrer 2. Säule durch die starke Beratungskomponente den Erkenntniszuwachs hinsichtlich der Notwendigkeit von individueller Einzelfallberatung.

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Im Bereich von ICT und New Media Technologien verfügen beide Länder über ähnliche Voraussetzungen in Technik und Anbindung, allerdings stehen nicht alle für die Landwirtschaft notwendigen Daten im Iran bereit. Außerdem fehlt es an Landmaschinen, die Wetter-, Boden- und GPS-Daten verarbeiten können. Andererseits versprächen diese Geräte erhebliche Arbeitskräfteeinsparungen, was bei der Menge an in der Landwirtschaft eingesetzten Personen im Iran eine erhebliche Freisetzung von Arbeitskräften bedeutete mit unabsehbaren Folgen für die soziale Sicherheit auf dem Land und, daran anschließend, für die bereits überfüllten und weiterhin anschwellenden Bevölkerungen in urbanen Zentren. Schon die Einwohnerentwicklung der Hauptstadt Teheran lässt die Dynamik erkennen: Lebten hier in der Kernstadt (ohne Metropolregion) 2006 noch knapp 7,8 Mio. Menschen, waren es 2012 schon 8,8 Mio. und 2016 bereits 12,8 Mio.

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Ähnlich wie zuvor in Deutschland wird im Iran in der Darbietung von Beratungs- und Selbsthilfeleistungen ein wichtiger Schlüssel gesehen, um die rurale Leistungsfähigkeit zu steigern und mechanisierte Prozesse bedarfsgerecht und sozialverträglich einzuführen. Landwirtschaftliche Beratung („Extension“) auf Augenhöhe, d.h. unter Einbeziehung von Bedürfnissen und Kenntnissen der Landbevölkerung steht hier im Vordergrund.

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Im Rahmen des Workshops wurden durch Vorträge und studentische Beiträge wichtige Schwerpunkte deutscher und iranischer landwirtschaftlicher und sozialer ruraler Entwicklungen skizziert. Auf ganztägigen Exkursionen in die Provinz Zandschan (Region Taroum, ca. 6000-jährige Besiedelungsgeschichte!) wurden Dörfer wie Ansar und ländliche Wohnhäuser besucht sowie die Ernte von Erbsen, Knoblauch oder Maulbeeren etc. begleitet und auch der regionale Knoblauchmarkt besucht, wo LKW-weise die Tagesernte abgeliefert wurde.

Die universitäre Bildung macht sich auch auf den Dörfern sichtbar, wo sich mehr und mehr im Landwirtschaftsstudium ausgebildete Bauern finden und trotzdem auch noch genügend einfachere Tätigkeiten verbleiben. Beeindruckend sind die weit verbreiteten und verflochtenen Verwandtschaftsbeziehungen und die durch familiäre und nachbarschaftliche Mithilfe geprägten Solidaritätsstrukturen.

Deutschlandfunk: Interview mit Stefan Piasecki, Karsten Jung und Götz Nordbruch

IMG_8910Das Buch „Islamismus in der Schule“ (2017, Göttingen: V & R) thematisiert ein drängendes gesellschaftliches Problem, dem Dr. Karsten Jung und Prof. Dr. Jan Bruckermann in ihrem Herausgeberband ein breites Spektrum von Analysen entgegengestellt haben. Prof. Dr. Stefan Piasecki beschreibt einen zunehmenden türkischen Nationalismus und Chauvinismus als Gefahr für den Schulfrieden, der sich insbesondere gegen Kinder richtet, die als „untürkisch“ verachtet werden, weil sie bspw. kurdischstämmig sind. Aus dem Lehrerkollegium haben sie häufig keine Hilfe zu erwarten – man sieht nichts oder will nichts sehen.
IMG_8914Welche historischen Hintergründe, ideologischen Versatzstücke oder Symbole und Signale es gibt, anhand derer man dieser Alltagsdiskriminierung auf deutschen Schulhöfen nachspüren kann, erläutert Stefan Piasecki in seinem Aufsatz. Die Journalistin Isabel Fannrich-Lautenschläger führte Ende April mit ihm sowie Dr. Karsten Jung und Dr. Götz Nordbruch ein Gespräch.

Ins Studio begleitet wurde er von seinem Studenten Felix Johne.

Hier findet sich das Interview in voller Länge.

BESTELLEN: Jung, Karsten / Bruckermann, Jan (Hrsg.): Islamismus in der Schule. Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen, Göttingen: V & R, 178 Seiten, 22 EUR

Geplante Vorträge

September 2017 (verschoben – neuer Termin folgt): Workshops „Theoretische Grundlagen zum Einsatz von Medien in der Bildung“ und „Krieg und Frieden in Computerspielen“ auf der Fortbildung für Lehrkräfte und Multiplikatoren „Neue Medien im Unterricht und der historisch-politischen Bildung“, veranstaltet in Kooperation mit dem Landesverband Hessen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., 18.9. in Kassel

Januar 2018 (vereinbart): „Erlösung durch Vernichtung – Spieleentwicklung und Religion. Narration und Persuasion im Computer- und Videospiel“. Eintägiger Workshop an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule, Innsbruck

Gehaltene Vorträge

September 2017: „Von der Freigabe für die Stillen Feiertage“ – Hotspot auf der Prüfertagung 2017 der Obersten Landesjugendbehörden und der FSK, 11./12.9. in Wiesbaden

Juli 2017: „Protection of Youths in Germany. Media content and its implication on social development and protection of minors“, 3-tägiger Workshop an der Iranian National School of Cinema, Teheran

Mai 2017: „GRAND THEFT TERROR – Spieltechnik als Terrorhelfer“: Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung „Von World of Warcraft bis Game of Thrones – Fantasy und Religion in Literatur, Film und Computerspiel“ des „Zentrums Weltanschauungen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin, 27. Mai 2017, Sophienkirche Berlin-Mitte

Mai 2017: „Krieg im Computerspiel – Wirkung und Auswirkung?“, Podiumsdiskussion, Magdeburg, 26. Mai 2017

Mai 2017: „Medienbiographien und Feindbilder“, Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Völkermühle am Rhein“ der Philipp-Kraft-Stiftung, Mediathek Eltville, 18. Mai. 2017

Mai 2017: „Rural urban migration in Germany and Iran. Perspectives and visions on social change“, 3-tägiger Workshop im „Agricultural Extension, Communication and Development Dept.“ der Universität Zanjan / Iran, 15.-17. Mai 2017

Januar 2017: „Deutsche Medien und ihr Iran-Bild“, Vortrag beim „Iran-Eurica-Institut“, 3.1.2017, Teheran

November 2016: „Computerspiele und der Terror“, Vortrag auf der Tagung „Avatare, Krieger, Dämonen. Religiöse Dynamik in virtuellen Welten“ der Veranstaltungsreihe „Weltanschauungen im Gespräch“ der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayern, 15. November 2016, Rothenburg ob der Tauber

Oktober 2016: „Der Iran nach der Aufhebung der UN-Sanktionen im Januar 2016“, Vortrag beim Diözesanverband der Eucharistischen Ehrengarde im Bistum Essen in der Peter & Paul Gemeinde Duisburg-Marxloh am 23.10.2016

Juli 2016: „Nudging“, Durchführung einer Tagesfortbildung für die Hessische Landesstelle für Suchtfragen, 8. Juli 2016 in Frankfurt

Mai 2016: „Deutsch: Sprache, Kultur, Wissenschaft – Perspektiven deutsch-iranischer studentischer Kooperation in virtuellen Lernräumen“, Vortrag auf der „Deutschkonferenz“, veranstaltet von DAAD und der Universität Teheran, Teheran 28. Mai – 1. Juni 2016

Mai 2016: „Feiertagsfreigaben und Jugendmedienschutz“, Referat auf der FSK-Prüferfortbildung, 12. Mai 2016 in Frankfurt

März 2016: „Schaufenster der Gegengesellschaft oder virtueller Molotowcocktail? – Verständnis von Kritik, Widerstand und Gewalt auf linksextremen Internetseiten“, Vortrag auf der sicherheitspolitischen Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung „Extremismus in Deutschland – Schwerpunkte, Perspektiven, Vergleich“ vom 11.-13. März 2016 im Bildungszentrum Kloster Banz

Februar 2016: „Spirits of the Silver Screen – Religious Patterns in Cinema Blockbusters and the Talk about God“, Vortrag auf der „International Conference on Literature and Cinema“ der Faculty of Foreign Languages and Literatures der Universität Teheran, Teheran 8.-9. Februar 2016

November 2015: Deutsche Diskurse: Darstellungen von Krieg, Kriegswirtschaft und Zivilgesellschaft in deutschen Computerspielproduktionen und ihre gesellschaftliche Reflexion“, Vortrag auf der Jahrestagung „Krieg und organisierte Gewalt im Computerspiel: Militärhistorische Narrative, Räume und Geschichtsbilder“ des AK Militärgeschichte an der TU Chemnitz am 26. November 2015

Oktober 2015: „Radikal für eine bessere Welt kämpfen: Muster linksextremistischer Argumentation im Internet“, Vortrag auf der Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung (München) in Wildbad Kreuth im Rahmen der Nachbereitung des G7-Gipfels in Elmau

Oktober 2015: Kino als Missionswerk: Durch Filmblockbuster über Gott ins Gespräch kommen, Universität Kassel

September 2015: „“Nudging“: „Soft“ mind-bending through politics and media as an modern complaint of civil rights activists“, Vortrag auf der Tagung „Media Trends 2015“ an der Webster Vienna Private University

Juni 2015: Teilnahme am Netzwerktreffen der werkstatt.bpb zum Thema „Digitale Bildung“ im schulischen und außerschulischen Kontext

Mai 2015: „Hollywood und Verkündigung“, Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der AMD der EKD in Schwerte am 19./20.5.2015

Januar 2015: „Gamification: Pädagogische Geheimwaffe oder manipulatives Blendwerk?“, Kooperative Berlin, 23.1.2015

November 2014: Vorstellung der Ergebnisse der studentischen Forschungsprojekte „Studentisches Leben im Wesertor“ und „Angsträume – Sozialräume“ am 20.11.2014 im Stadtteilmanagement Wesertor, Kassel

September 2014: „Das Prinzip der Gamification in Bildungsprozessen. Unterhaltsames Lernen durch Gamification?!“, 22. Jahrestagung der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft #GMW14, Zürich 1.-4.9.2014

November 2013: „Jugend, Medien, Widersprüche: Videospiele als Teil der Lebenswelt und Jugendarbeit“, Netzwerktreffen JUMPERS – Jugend mit Perspektive e.V. in Kassel

Oktober 2013: „Virtuelle Welten und Jesus Christus“, Christlich-pädagogisches Symposium des CJD zum Thema: „Social Media und Pädagogik – Bedeutung und Auswirkung auf junge Menschen“ in Berlin

März 2012: Keynote-Speaker „Virtuelle Welten und unsere Botschaft“ auf der Fachtagung „Warcraft, Karma und Jesus – Das Wort in unseren   (ir-) realen Welten“, CVJM-Hochschule Kassel

Januar 2011: Moderation von Vortrag und Informationsabend des Nahostkorrespondenten Ulrich Sahm zum Thema: „Alltag im gelobten Land“ – Ein Gespräch über Krieg, Frieden und das alltägliche Miteinander von (nicht immer so) ungleichen Nachbarn in Israel und Palästina

Artikel: „Nudging – Ein Thema für Menschenrechtler“ (auf Persisch, in: Sepideh Danai)

Piasecki, Stefan: ناجینگ .موضوعی مورد علاقه برای فعالان حقوق شهروندی (Najing. Mozoi mored alagheh baraye faalan hoghoghe shahrvandi). In: Sepideh Danai. Monatliche Zeitschrift für Theorie und Analyse, Ausgabe 99/100 (Azar / Dey), Teheran 1395 (2017), S. 60-65 („Nudging – Ein Thema für Menschenrechtler“, auf Persisch)

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(Danke an Azadeh Niyazadeh für den Scan)

Seminar „Kultur- und medienpädagogische Handlungsansätze in der Sozialen Arbeit“ mit hohem Praxisanteil beendet

Das in diesem Wintersemester 2016/17 erstmals von Prof. Dr. Stefan Piasecki durchgeführte Seminar widmete sich den vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten, die sich für die Soziale Arbeit in medien- und anderen kulturwissenschaftlichen Bereichen bieten.

Neben den grundsätzlichen Bedingungen von und für Kultur im Rahmen der unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund und Ländern sowie pädagogischen und kulturwissenschaftlichen Grundlagen und Theorien sollte vor allem dargelegt werden, wie und wodurch die Soziale Arbeit mit kulturellen Anteilen bereichert werden kann. Im Schwerpunkt wurden Kunstprojekte, Erinnerungsarbeit sowie musikpädagogische und theaterpädagogische Themen bearbeitet, letztere auch praktisch.

Mit dem Volksbund Kriegsgräberfürsorge wurde ein multimedialer Bildungspfad über den Kasseler Hauptfriedhof veranstaltet, beim Besuch des Kasseler Rap-Labels GMG dem Phänomen Gewalt-Rap und Jugendkultur nachgespürt und gemeinsam mit der Theaterpädagogin Anna Stoß konnten im Staatstheater Kassel Gruppenübungen durchgeführt werden, bevor man am nächsten Tag gemeinsam die moderne Inszenierung „Ronja Räubertochter“ besuchte.

Seminar „Medien in Deutschland“ an der Universität Teheran erfolgreich beendet

0-weu-d1-27804f1702f54cb59b98ee90da52508dDas im Wintersemester 1395/2016-17 von Prof. Dr. Stefan Piasecki an der Universität Teheran durchgeführte Seminar „Medien in Deutschland“ konnte in der ersten Januarwoche mit einer zweiten Präsenzzeit in Teheran erfolgreich abgeschlossen werden, nachdem eine erste Präsenzzeit Ende bereits November stattgefunden hatte.

0-weu-d3-575c4c59114e188dec340177a2f0108fDie Studierenden erarbeiteten die Grundzüge journalistischer Arbeit und spürten dem Einfluss medialer Berichterstattung auf die öffentliche Meinung nach. Hierbei wurden immer wieder auch Parallelen zu Strukturen und Realitäten in der Islamischen Republik Iran vorgenommen. Themenschwerpunkte waren Nachrichtenwerttheorien sowie Aspekte des Agenda-Setting und das journalistische Selbstverständnis und Arbeitsethos.Hierzu wurden gängige Theorien herangezogen und Untersuchungen rezipiert.

Das Ende des Seminars bildete die Analyse eines sozialkritischen Kurzfilms, deren Präsentation gleichzeitig auch die Prüfungsleistung in diesem Modul darstellte.

 

Neben der wissenschaftlichen Arbeit gab es selbstverständlich Raum für Fachgespräche mit Kollegen der soziologischen Abteilung, dem DAAD, der Vertreterin einer NGO, die sich um afghanische Flüchtlinge kümmert, mit dem iranischen Computerspieleverband und einige Besichtigungen.

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Im Vorfeld vollkommen unbemerkt geblieben und damit eine echte Überraschung war die kleine Geburtstagsparty, die Studenten für Stefan Piasecki organisiert hatten.

 

Prostitution und Gewalt im Videospiel – Ein Kommentar von Carina Angelina

Von Carina Angelina, Freethem Deutschland e.V.

 

Effectively Killing Prostitutes in Grand Theft Auto 5 (GTA V)

 

car3Erst kauft man sich eine prostituierte Person, schläft mit ihr und wenn man dann doch keine Lust hat zu bezahlen, ermordet man sie. Das ist eine Aktionsmöglichkeit, die man als GTA-Spieler nutzen kann.

Das diese Darstellungen keine reine Fiktion sind, lässt sich eindrücklich und zugleich erschreckend auf der Seite „Sex Industry Kills“ nachlesen (vgl. Sex Industry Kills). Sie zeigt die erschreckende Realität, denen einige prostituierte Personen ausgesetzt sind. Belästigende, übergriffige oder gewaltvolle Handlungen sind keine Seltenheit.

car2Gerade prostituierte Personen werden häufig als „Frauen zweiter Klasse“ gesehen und stigmatisiert. Ich möchte dies an einem kleinen Vorfall einer Bekannten von mir verdeutlichen. Sie lief gegen Abend in Hamburg durch einen Bezirk, in dem Prostitution gang und gäbe ist. Auf einmal bemerkte sie, dass sich ihr ein Auto näherte. Sie fing an schneller zu gehen. Ein Mann kurbelte das Fenster runter und fragte „Wie viel?“. Sie fing an schneller zu gehen und sich von dem Auto zu entfernen. Der Autofahrer verfolgte sie und fragte erneut aufdringlich „Hey wie viel?“. Sie versuchte sich erneut von dem Auto zu entfernen und sah den Autofahrer nicht an. Nach dem dritten Mal Fragen drehte sie sich um und antworte „Ich bin nicht zu kaufen.“ Völlig beschämt entschuldigte sich der Mann und fuhr weg.

Dies verdeutlicht ein vorurteilsbehaftetes und stereotypisches Denken, das sich durch einige Köpfe zieht: Eine prostituierte Person zu belästigen ist in Ordnung, ihr kann man respektlos begegnen und kann sie entsprechend behandeln. Eine „ehrbare Frau“ wird anders angesprochen.

car4Aufgrund diverser Gespräche und Recherchen auf Freier-Foren weiß ich, dass es durchaus die Vorstellung unter Sexkäufern gibt, dass man prostituierte Personen gar nicht vergewaltigen könne, denn schließlich würden sie ja für Sex bezahlt. Dafür seien sie ja da. „Warum ich für Sex bezahle? Frauen gehen mir oft auf den Sack. Sie machen Stress. Dafür zu zahlen, das hat was. Ins Gesicht abspritzen kostet 50 extra. Eigentlich ist das Macht. Man kann mit der Frau machen, was man will. (Christian, 23, Kaufmann, Single)“ (Flitner 2013, 1). Ich möchte damit nicht behaupten, dass jeder Freier oder gar GTA-Spieler so denkt. Dennoch muss vermutet werden, dass solche „Aktionsmöglichkeiten“ ein herabwürdigendes Denken und gewaltvolles Verhalten gegenüber prostituierten Personen fördern.

Realitätscheck:

  • Diverse Organisationen, aber auch Studien bestätigen strukturelle, psychische und physische Gewalt gegenüber Prostituierten (vgl. BMFSFJ 2004a, 470).
  • In einer älteren Befragung in Deutschland gaben ca. die Hälfte der interviewten prostituierten Personen an schon einmal Opfer einer Gewalttat durch Sexkäufer, Zuhälter oder Bordellbetreiber geworden zu sein (vgl. BMFSFJ 2004a, 470).
  • Die Organisation TAMPEP berichtet zudem von einer Zunahme von Gewalt gegenüber Personen in der Prostitution z. B. von Seiten der Freier, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden (vgl. TAMPEP 2007, 7).
  • In einer Studie vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gaben 41 % an, schon mal körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Prostitution erfahren zu haben (vgl. BMFSFJ 2004b, 26). Interessant ist hierbei, dass 77 % der befragten Personen deutscher Nationalität waren (vgl. BMFSFJ 2004a, 17). Die Mehrzahl der in der Prostitution tätigen Personen sind jedoch schätzungsweise Migrantinnen (vgl. BMFSFJ 2016; TAMPEP 2007, 6). (Bsp.: München 2014: neuer Höchstwert von 85,4 % Migrantinnen in der Prostitution (vgl. Polizeipräsidium München 2015, 60))
  • In zwei weiteren in Deutschland durchgeführten Studien gaben rund 60 % der befragten prostituierten Personen an, schon mindestens einmal in der Prostitution vergewaltigt worden zu sein (vgl. Farley 2003, 43; Zumbeck 2001 zit. n. BMFSFJ 2004a, 471).
  • Bei einer Befragung von Church gaben ebenfalls mehr als die Hälfte der Befragten an schon einmal Gewalt durch Freier erlebt zu haben, jedoch meldeten nur 35 % der Personen dies der Polizei (vgl. Church 2001 zit. n. BMFSFJ 2004a, 472).

car5Und wer nun der Ansicht ist, dass Gewalt nur im Bereich der Straßenprostitution stattfindet, der irrt sich. In dem neusten Bundeslagebild „Menschenhandel“ wurde laut Bundeskriminalamt im Jahr 2015 knapp jedes fünfte Opfer vom Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung im Bereich der Hotel- und Hausbesuche tätig (vgl. BKA 2016, 9). Hierbei sollte betont werden, dass es sich bei dem Bundeslagebild um das Hellfeld handelt. Neben dem Bundeskriminalamt schätzen auch einige andere Experten und Expertinnen, dass es bei diesen Statistiken nur im die „Spitzen des Eisberges“ handle (vgl. Aktionsbündnis gegen Frauenhandel).

 

angelineCarina Angelina beschäftigt sich seit knapp vier Jahren intensiv mit der Thematik Menschenhandel und Prostitution. Ihre Bachelor-Thesis schrieb sie u. a. über Erklärungsansätze für die Ursachen und Motive der Ausübung von Prostitution. Sie ist Vorsitzende des Vereins Freethem Deutschland e. V. – einer Jugendbewegung, bestehend aus jungen Leuten, die über Menschenhandel und Prostitution informieren, zu kritischer Auseinandersetzung mit der Thematik motivieren und junge Leute aktivieren, selbst gegen Missstände im Sexgewerbe aufzustehen. Mehr Infos auf ihrer Website (www.freethem.de) oder auf Facebook (www.facebook.de/freethem.de).

Quellen:

Aktionsbündnis gegen Frauenhandel: Was ist Frauenhandel? Online verfügbar unter http://www.gegen-frauenhandel.de/ueber-das-aktionsbuendnis/was-ist-frauenhandel/ (Frauenhandel. Diskurse und Praktiken. Transkulturelle Perspektive, Band 6, hrsg. V. Jürgen Nautz, Birgit Sauer, 1. Auflage 2008), zuletzt geprüft am 29.10.2016

Bundeskriminalamt (BKA) (2016): Bundeslagebild 2015 Menschenhandel; https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/161010_BundeslagebildMenschenhandel.html; zuletzt geprüft am 29.10.2016

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2004a): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland. II Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten. Online verfügbar unter http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung4/Pdf-Anlagen/langfassung-studie-frauen-teil-eins,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2004b): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Kurzfassung. Online verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2016): Prostitution. Online verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/prostitution/prostitution/80646?view=DEFAULT, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Farley, Melissa; Alvarez, Dinorah; Cotton, Ann; Lynne, Jacqueline; Reyes, Maria E.; Sczgin, Ufuk; Spiwak, Frida; Zumbeck, Sybille (2003): Prostitution and Trafficking in Nine Countries. An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder. Online verfügbar unter http://www.prostitutionresearch.com/pdf/Prostitutionin9Countries.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Flitner, Bettina (2013): Freier. Online verfügbar unter http://www.bettinaflitner.de/fileadmin/img/Press_Artikel/Freier_STERN.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Polizeipräsidium München (2016): Sicherheitsreport 2015. Online verfügbar unter https://www.polizei.bayern.de/content/2/4/1/0/6/8/sicherheitsreport_2015_endfassung.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016

Sex Industry Kills: Prostitution murders. Online verfügbar unter http://sexindustry-kills.de/doku.php?id=prostitutionmurders:start, zuletzt geprüft am 29.10.2016

TAMPEP (European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers (Hrsg.) (2007): NATIONAL REPORT ON HIV AND SEX WORK. GERMANY. Online verfügbar unter http://tampep.eu/documents/Germany%20National%20Report.pdf, zuletzt geprüft am 29.10.2016